Nur eine Geschichte?

 

 

 

 

               

 

Der alte Mann

aus "Moritz´lange Reise" von einem, der aus sich auszog

Der alte Mann sah mich lange an mit seinen stahlgrauen Augen, die eine direkte Verbindung mit meinem Innersten aufzunehmen schienen. Ich fühlte mich nackt, all meiner Schutzmechanismen beraubt. Nach einer Weile, mir erschien´s wie Stunden, legte er seine Hand auf meine und sprach: "Mein Freund, ich will dir eine Geschichte erzählen. In meinem Dorf lebte vor langer Zeit ein Müller. Er war zufrieden und glücklich, liebte seine Frau und seine Tochter über alles, lebte in Einklang mit der Natur, war sanftmütig und großherzig. Kein hungriger Wanderer, der an seine Türe klopfte, verließ mit hungrigem Magen seine Mühle. Niemand, der noch kein Quartier für die Nacht gefunden hatte, musste im Wald Angst vor Wölfen oder Kälte haben. Jeder im Dorf wusste, zu wem er gehen konnte, wenn er Hilfe brauchte. Der Müller glaubte fest an das Gute im Menschen und war in seiner Meinung unbeirrbar. Er wurde bestohlen von Wanderern, die er aufgenommen hatte, betrogen von Dorfbewohnern, denen er Geld geliehen hatte. Aber durch nichts ließ er sich beirren. Sah er ein Kind weinend in der Nähe sitzen, ließ er seine Arbeit ruhen, trocknete die Tränen des Kindes, fragte nach dem Grund und blieb so lange, bis das Kind wieder lachte. Fand er ein verletztes Tier im Wald, so pflegte er es so lange, bis er es wieder gesund in den Wald schicken konnte. Auch schwere Schicksalsschläge konnten ihn nicht vom Weg abbringen. Als sein erstgeborener Sohn mit 3 Jahren nach langer schwerer Krankheit starb, verlor er seinen Glauben an einen gütigen Gott, nicht aber seine Überzeugung, daß die Menschen im Grunde gut seien und das Leben insgesamt lebenswert. Und er half weiter, so gut es in seiner Macht stand.


Bis zu jenem Sonntag, an dem seine Frau nach dem Essen zu ihm sagte: "Mann, ich liebe dich mehr als mein eigenes Leben, aber ich werde dich verlassen." Wohl vernahm der Müller die Worte, ihr Inhalt jedoch erreichte ihn nicht. Er saß nur da, starrte seine geliebte Frau an und war außerstande, irgend etwas zu tun oder zu denken. Das Vernommene war jenseits dessen, was das Schicksal an Überraschungen zu bieten hatte. Irreal wie ein Albtraum und somit nicht denkbar im wirklichen Leben.
Erst als sie weiter sprach - er bekam nur mit: "nie für uns da" - sah er drohende Wolken aufziehen, die ihn zu verschlingen drohten. Als er seine Umwelt wieder halbwegs wahrnahm, war seine Frau mit einem großen Koffer in der einen Hand und der ungläubig schauenden Tochter an der anderen bereits auf dem Weg zur Tür.
Er versuchte sie aufzuhalten, beschwor ihre beiderseitige Liebe, ihre gemeinsamen Jahre. Jedoch, es half alles nicht. Er folgte ihr bis ins Dorf, beschwor sie, flehte sie an, weinte. Auch seine Beteuerungen, künftig nur für sie da zu sein und nicht mehr für Andere, hatten keinen Erfolg. "Ich hatte dich bereits früher gebeten, nur für uns da zu sein, " bekam er zur Antwort. "Und du hast erwidert: `Wie kann ich das? Soll ich mich verleugnen und die Achtung vor mir selbst verlieren?` Und ich habe dir geantwortet: `Nein, das kannst du nicht.` Und gerade darum liebe ich dich so sehr. Das ändert aber nichts daran, dass ich nicht damit leben kann, dich mit Anderen zu teilen." "Bitte liebe Frau, lass uns doch noch einmal in Ruhe darüber reden, " flehte der Müller. "Zu spät, ich habe mich entschieden." "Wie kann es zu spät sein? Du sagst doch selbst, dass du mich über alles liebst.?" "Ich weiß, dass ich nie mehr in meinem Leben glücklich sein werde. Aber die Würfel sind gefallen." Drehte sich um, stieg samt der weinenden Tochter in die Kutsche und entschwand mit ihr.
Dem Müller schien die Welt einzustürzen. Sie war nicht mehr die gleiche wie bisher, schien sich in einen Vulkan verwandelt zu haben, dessen Lava alles verschlang. Das Geschehene war so weit jeglicher Vorstellungskraft des Müllers, dass er nicht mehr denken konnte. Sein gesamtes Inneres war ausgefüllt mit Schmerzen, verursacht durch die glühende Lava des Weltuntergangs. Schmerzen, die sein Herz zu zerreißen drohten, ihn so weit ausfüllten, dass für nichts Anderes mehr Platz war in ihm.
In den nächsten Monaten, nein, ich muss mich korrigieren, es waren ein paar Jahre, verbrachte er seine Zeit damit, heraus zu finden, wo seine Frau, die zweite Hälfte seiner Seele und seine geliebte Tochter geblieben waren, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, seinen unerträglichen Schmerz mit Alkohol zu betäuben. Er wurde in jener Zeit mehr in der Dorfschänke gesehen als in seiner Mühle.
Der Großvater meines Großvaters traf ihn einmal dort und fragte ihn, warum er seine Arbeit so vernachlässige und sich jeden Abend betrinke. "Weil ich den Schmerz nicht ertrage, ohne ihn zu betäuben und mir nichts im Leben mehr etwas bedeutet, auch meine Arbeit nicht."
Kurz danach wurde der Müller nicht mehr in der Schänke gesehen und der Bäcker berichtete, dass er wieder ausreichend Mehl in der Mühle bekäme. Aber der Müller hätte sich seltsam verändert. Fing man ein Gespräch an, so antworte er kaum und gab einem das Gefühl, man sei unerwünscht. Wenn man in seiner Stube saß, begänne man zu frösteln, selbst im heißesten Sommer. Ein auf der Wanderschaft durchs Dorf ziehender Schreiner berichtete, sein Wunsch in der Mühle übernachten zu dürfen, da es bereits dunkel sei und der Weg ins Dorf durch Schneeverwehungen versperrt sei, sei grob abgelehnt worden mit den Worten: "Scher dich zum Teufel, du Taugenichts. Du willst mich doch nur bestehlen."
Ein anderes Mal berichtete der Bäcker, bei seinem Eintreffen sei die Mühle leer gewesen. Auf dem Tisch lag ein geöffneter Brief. Er konnte seine Neugier nicht beherrschen und las die wenigen Zeilen. "Ich habe früher geglaubt, du seist mein Papa, aber das stimmt gar nicht. Wenn du das gewesen wärest, dann wärst du mehr für mich da gewesen und nicht für andere Kinder." Der Brief hatte weder Anrede noch Unterschrift, auf dem Briefumschlag war kein Absender angegeben. Der Bäcker musste lange Zeit warten, bis der Müller endlich erschien, mit zerkratztem Gesicht, zerrissenen Kleidern und leerem Blick. Er war offensichtlich stundenlang im Wald umhergeirrt. Der Bäcker versuchte ihn anzusprechen, wurde aber gar nicht wahrgenommen.
Der Großvater meines Großvaters war Sattler, wie schon sein Vater und dessen Vater. Und in dieser Eigenschaft wurde er eines Tages vom Müller aufgesucht. Der Antriebsriemen für die Mühlsteine sei alt und brüchig. Er brauche einen neuen. Der Großvater meines Großvaters fragte ihn, ob er ihm etwas zu trinken oder zu essen anbieten dürfe. Da hatte der Müller den Türgriff bereits in der Hand, drehte sich kurz um, blaffte ein "Nein!" und war schon verschwunden. Er hinterließ eine Kälte in der Sattlerei, dass der Großvater meines Großvaters seine dicke Wolljacke holte und anzog. Erst später wunderte er sich darüber, denn es war ein extrem heißer Julitag.
Da er auch den brüchigen Antriebsriemen gefertigt hatte, brauchte er keine weiteren Informationen vom Müller, um den Auftrag zu erledigen. In seiner dicken speckigen Kladde fand er die Maße des Riemens, den er vor mehr als zwanzig Jahren noch für den Vater des Müllers gefertigt hatte.
So machte er sich eine Woche später mit seinem Holzkarren, auf dem er den neuen Antriebsriemen transportierte, auf den Weg zur Mühle. Als er dort ankam, sah er vor der Mühle die kleine Tochter des Köhlers auf dem Boden sitzen und bitterlich weinen. Offenbar war sie gestolpert und hatte sich dabei an einem Stein ein Knie aufgeschlagen, denn es blutete heftig. Neben ihr lag eine umgestürzte Milchkanne, die vorher wohl gefüllt war, denn die Milchreste waren noch im Gras zu erkennen. Und so wußte der Großvater meines Großvaters, dass das Mädchen nicht wegen ihrer Verletzung weinte, sondern aus Angst. Der Köhler war als jähzornig bekannt und seine kleine Tochter war schon oft mit Wunden und blauen Flecken in die Dorfschule gekommen, nachdem sie ein paar Tage zuvor dort gar nicht erschienen war. Der Großvater meines Großvaters konnte sich noch erinnern, dass der Müller den Köhler einmal tüchtig verdroschen hatte, als er davon erfuhr. Das weinende Mädchen war jedoch nicht alles, was er sah. Auf der Türschwelle zur Mühle saß der Müller und weinte ebenfalls. Also ging er zunächst zu der Köhlerstochter, sagte ihr, dass er gleich mit ihr nach Hause gehen und mit ihrem Vater reden würde, um sich dann dem Müller zu widmen "Warum gehst du nicht zu dem Mädchen und tröstest es, wie du es früher getan hast? Warum weinst du hier für dich alleine?"
Der Müller wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, blickte auf und antwortete: "Ich weine nicht um das Mädchen. Ich weine um mich." "Wie kannst du um dich weinen, wenn vor deinen Augen ein Kind leidet?" "Ich weine, weil ich nicht mit dem Kind weinen kann. Bei dem Unterfangen, den Schmerz zu ertragen, habe ich mein Herz so abgehärtet, dass ich jetzt zwar kaum noch welchen verspüre, aber es gibt auch nichts mehr, was mein Herz rührt. Ich glaube, ich bin aus mir ausgezogen."
Ein paar Wochen später fand der Bäcker den Müller tot in seiner Mühle. Der aus der Stadt herbei gerufene Arzt konnte keine Krankheit als Ursache ausmachen. Er sagte: "Er hat einfach aufgehört zu leben." Da der Müller keine Angehörigen hatte - niemand wusste, wo seine Frau hingezogen war - musste sich die Dorfgemeinschaft um die Bestattung kümmern. Einen Grabstein brauchten sie nicht anfertigen zu lassen, sie fanden einen zwischen den Mehlsäcken. In groben Buchstaben waren in den Granit die Worte gemeißelt:
LASS NIEMALS ZU DASS DAS WERTVOLLSTE WAS DU HAST DEIN HERZ SO WIRD WIE DIESER STEIN
Und seitdem, bis zum heutigen Tag, geht jeder aus unserem Dorf, wenn er Probleme hat, auf den Kirchhof zum Grab des Müllers."


Ich merkte, dass mein Blick von Tränen verschleiert war, wischte sie mir aus den Augen, und als ich danach wieder aufsah, war der alte Mann verschwunden.
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   

 

 

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

    

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



Datenschutzerklärung
Kostenlose Homepage erstellen bei Beepworld
 
Verantwortlich für den Inhalt dieser Seite ist ausschließlich der
Autor dieser Homepage, kontaktierbar über dieses Formular!